Flughafen Marsa Alam, mitten in der Wüste. Dreieinhalbtausend Kilometer vom Flughafen Stuttgart entfernt sitzen wir im Minibus unseres Reiseveranstalters und warten darauf, dass es Richtung Hotel geht. Unser Fahrer wuchtet einen nach dem anderen der schweren Koffer durchs hintere Seitenfenster in den Fond des Fahrzeugs, stapelt höher und höher – bis das letzte Touristenpärchen einsteigt und sich beunruhigt umdreht. „Wenn der bremsen muss, haben wir die Koffer im Kreuz“, mault sie. Unser ägyptischer Reiseleiter hört’s, es folgt ein längeres Palaver mit dem Fahrer auf Arabisch. Das Ende der Geschichte: Missmutig lädt Letztgenannter die Koffer einen nach dem anderen wieder durchs Seitenfenster aus und packt die Reisetaschen auf die Dachreling. Das dauert, der Schweiß läuft uns trotz Klimaanlage in Strömen über die Stirn. Was soll’s – wir haben Urlaub, wir haben Zeit. Willkommen in Ägypten!
Zur Rechten Sand, so weit das Auge reicht, zur Linken tiefblaues Wasser, das in mehreren Schattierungen leuchtet – mehr ist da nicht im Gebiet südlich des Flughafens von Marsa Alam. In der Ferne erheben sich Sandberge, dann und wann passieren wir ein Hotel an der Küste oder eine von Staub und Sand bedeckte kleine Siedlung. Das südliche Ägypten wurde erst nach der Jahrtausendwende vom Tourismus wachgeküsst, als ein kuweitischer Scheich in den Bau des Flughafens rund 50 Kilometer südlich des Fischerdorfs Marsa Alam investierte und wenige Kilometer daneben die Kunststadt Port Ghalib erschuf, mit Kanälen, an denen Platz für tausend Tauch- und Ausflugsboote ist.
Es folgte ein Bauboom ohnegleichen, dutzendweise entstanden große Hotelbauten rund um Marsa Alam entlang der Küste – doch die meisten von ihnen endeten als Bauruinen, die dem Wüstenwind trotzend fensterlos ihr Dasein fristen. Ihren Erbauern ging entweder das Geld aus – oder sie gehören kuweitischen Investoren, die nach der Revolution 2011 und den nachfolgenden politischen Unruhen lieber die Finger von weiterem finanziellen Einsatz ließen. Die Lage auf der arabischen Halbinsel bleibt instabil, doch während die Touristen den Pyramiden und dem Tal der Könige weitgehend den Rücken gekehrt haben, können sich die etablierten Hotels an der Küste halten.
Der Hauptgrund dafür liegt unter Wasser. Hier im Süden, kurz vor der Grenze zum Sudan, ist die Welt unter der Oberfläche noch weitgehend in Ordnung. Schroff zum Meeresboden abfallende Saumriffe beherbergen zahlreiche Korallenarten, zwischen denen sich bunte Doktorfische, Muränen und gelegentlich auch mal ein kleiner Riffhai tummeln. Manche Bucht beherbergt ein Dugong, also eine Seekuh, und die zur Touristenattraktion Sataya verkommene Bucht hat fast schon eine Delfingarantie vorzuweisen. Das südliche Ägypten – ein Traum für Taucher, Schnorchler und Strandläufer.
Unser Hotel, das Gorgonia Beach, liegt irgendwo „am Arsch der Welt“, wie es unser Reiseführer dezent ausdrückt, nicht ohne zu beteuern: „Aber es ist ein sehr schöner Arsch.“ Da hat er Recht. Die übersichtliche, zweigeschossige Anlage ist eine kleine Oase in der Wüste mit klimatisiertem Empfangsbereich, Gartenanlage und großem Pool. Die Zimmer sind riesig, der Weg zum Strand kurz. Doch wer braucht schon den Strand – wichtiger ist der rund 150 Meter lange Holzsteg, der zur Riffkante führt. Über zwei Leitern oder einen beherzten Sprung aus zwei Metern Höhe geht es ins warme Wasser – Mitte September sind die Temperaturen mit rund 28 Grad fast schon auf Badewannen-Niveau. Unter der Oberfläche warten schon erwähnte Korallenbänke am Saumriff und große Korallenblöcke auf den menschlichen Besucher, tummeln sich kleine und größere Fische, gelegentlich auch ein Oktopus oder ein Blaupunktrochen im klaren Blau.
Draußen am Strand kann man über die Grenzen der Anlage hinausflanieren. Alle hundert Meter trifft man auf einen improvisierten Unterstand im Sand. Dort bieten Beduinen Schmuck an: Armbänder mit Kunststoffperlen, Plastikblümchen oder aus Holzelementen sowie Halsketten halten sie feil; wer möchte, kann sich eins nach Wunsch anfertigen lassen. Für ein paar Euro erhält man die Arbeit einer Dreiviertelstunde, ein Lächeln und eine Menge zusätzliche Kettchen dazu geschenkt. Unter den Verkäufern sind auch drei kleine Mädchen, die älteste vielleicht elf, die jüngeren unter acht Jahre alt. „Die Schule beginnt erst im Oktober“, sagen sie – doch welche Schule? Die nächste ist in Marsa Alam, 50 Kilometer entfernt. Das erzählt uns Sonia, die Masseurin aus Kairo, die täglich am Strand entlanggeht und versucht, Kunden anzulocken. Nein, ich will keine Massage, doch Sonia gibt trotzdem eine Kostprobe ihrer Kunst. Mein Nein akzeptiert sie dann doch und erzählt aus ihrem Leben, von ihrem Mann, der acht Jahre in Italien gelebt hat und ihre Berufstätigkeit akzeptiert, von ihrem kleinen Sohn, zu dem sie täglich die 50 Kilometer nach Marsa Alam heimfährt, davon, dass ihre Verwandten in Kairo mit einem Bruchteil des Geldes klarkommen müssen, das sie im Hotel-Spa verdient. „Da gibt es dann halt nur Fladenbrot und Bohnen zu essen“, sagt sie – kein Leben, das sie führen will.
Wem das Riff des Gorgonia nicht genug bietet – und es bietet viel für Schnorchler und Taucher gleichermaßen – der kann an der Tauchbasis Ausflüge buchen. So fahren wir nach Marsa Egla („Marsa“ bedeutet Bucht). Dort gibt es angeblich ein Dugong, eine Seekuh. Die Ausflügler teilen sich in Schnorchler und Taucher auf und machen sich auf der Seegraswiese im Wasser auf die Suche nach dem großen grauen Tier. Die Taucher gehen leer aus, die Schnorchler haben Glück: Die gutmütig dreinschauende Seekuh schwebt schon nach kurzer Zeit vor ihnen her, scheint milde zu lächeln beim Anblick der Touristen.
Zurück an Land, erwartet uns ein ungewohnter Anblick. Eine ägyptische Familie hat sich neben unserem Lager am Strand niedergelassen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche planschen ausgelassen im seichten Wasser; die Mädchen unter ihnen tragen volle Bekleidung – Jeans, Sweatshirt, Kopftuch. Der Spaß ist groß, der Lärmpegel auch. Drei Frauen machen es sich im Sand auf Klappstühlen bequem, die älteste unter ihnen stellt den Stuhl und ihre vom langen Gewand bedeckten Füße direkt ins Wasser. Dort beobachtet sie zufrieden das Treiben im Wasser, über ihrem Kopf einen weißen Sonnenschirm haltend zum Schutz gegen die Hitze.
Ein weiterer Ausflug führt uns zum Wrack der Abu Ghusun. Der Frachter sank in den 80er-Jahren am Rand einer malerischen Bucht; mittlerweile haben Korallen auf seinen Überresten gesiedelt und einen neuen Lebensraum für die Fische geschaffen. Gespenstisch erscheinen die Umrisse des aus 18 Meter Tiefe aufragenden Schiffs-Torsos beim Näherkommen durch die Taucherbrille; das Schiff scheint zu singen, zu klagen im Wogen des Meeres.
Zurück im Hotel. Wer genug vom Entspannen im Liegestuhl am Pool oder am Strand hat, kann zur Abwechslung auch eins der Korallenbecken des Innenriffs aufsuchen. Dort ist das Wasser zwar ein bisschen trübe, doch auf dem hellen Sandboden kann man erstaunliche Entdeckungen machen. Mit etwas Glück lassen sich die Schildkröten blicken, Gitarrenrochen ziehen elegant ihres Wegs, und neben dem riesigen Stachelrochen lässt sich in gebührlichem Abstand eine schwarze Muräne im Sand nieder. Nur einer lässt sich nicht blicken: Der große alte Barrakuda, der im größeren der beiden natürlichen Becken leben soll. Egal – vielleicht klappt es ja beim nächsten Besuch. Denn das südliche Ägypten ist definitiv mehr als eine Reise wert. (bb)