Das andere Mallorca

2 Okt

Müde schlappen die jungen Männer in ihren Flip-Flops über die Straße Richtung Meer. Es ist 10.30 Uhr vormittags, und der Hangover der vergangenen Partynacht ist ihnen noch deutlich anzusehen. Vor den Hotelburgen in der zweiten und dritten Strandreihe warten einige Touristen auf ihren Transferbus zum Flughafen – lederbraun gebrannt, die Frauen mit blondiertem Haar, die Männer mit grauem Schnauzbart, in T-Shirt und Shorts.

Willkommen am Ballermann. Man spricht Deutsch, das Angebot der Fressbuden zwischen den Hotels umfasst Weißbier, Grillwurst und Jägerschnitzel. Die pseudoantike Fassade des Mega-Parks prollt wie die Goldkettchen diverser gealterter Partygänger, an der Open-Air-Bar einer Kneipe trinken vereinzelte Urlauber das erste Bier des Tages. Malle ist nur einmal im Jahr – oder wie war das?

„Das ist ein anderes Mallorca“, sagt Maria Magdalena, die Vermieterin unserer Finca. Wahrlich: Hotels sind hier, im Herzen der Insel, fast keine zu finden. Schon gar nicht in Montuiri. Der ländlich geprägte Ort liegt nur 25 Fahrminuten vom Flughafen Palma entfernt – und doch ist dies eine ganz andere Welt als die der Platja de Palma. Son Costa heißt unser Zuhause für eine Woche. Das Anwesen hat 300 Jahre mallorquinische Geschichte gesehen und strahlt selbst Geschichte aus, angefangen bei der langen Zufahrt bis zum großen Holztor, hinter dem sich ein Innenhof verbirgt, gepflastert mit groben Steinen und begrenzt von lauschigen Plätzchen zum Verweilen. Eine Treppe führt am tiefen Brunnen vorbei zur Terrasse im ersten Stock, eine andere zum Eingang ins Hauptgebäude.

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Treppen aus Stein, zum Haus und im Haus. Fast jedes Zimmer ist auf einer anderen Ebene, manche Räume haben keine richtigen Fenster, nur kleine Oberlichter in der hohen Decke. Die Bäder sind gefliest mit traditionellen Keramikplättchen, überall finden sich Zeugnisse der Vergangenheit: alte Möbel, Holzregale, die sich unter der Last der Zeit krümmen, Porzellan, Keramik, Bilder, Gebrauchsgegenstände, Zierrat und mehr. Son Costa erinnert mehr an eine kleine Raubritterburg als an das landwirtschaftliche Anwesen, das es einst war. Hier wurden Oliven zu wertvollem Öl gepresst, und noch heute wird der rückwärtige Teil des Geländes als Bauernhof genutzt.

Neu ist der große Pool, der sich in einem separaten Teil des Gartens befindet, verborgen hinter dicken Steinmauern, auf denen sich Eidechsen wohlfühlen, bewachsen mit Bougainvilleen und umrankt von Efeu, umgeben von Stein und hohen Hecken, hinter denen gelegentlich ein Hund kläfft. Er ruft nach dem Esel. Truc heißt das vier Jahre alte Langohr, das am Ende des Gartens neben dem Feigenbaum am Holzzaun steht und sich freut, wenn der menschliche Besuch vorbeischaut und ihm ein paar Streicheleinheiten verpasst. Hohe Palmen und ein großer Steinturm zieren den großen, grünen Garten, der Ausblick von der Terrasse im ersten Stock zeigt, wie vielseitig und schön die Landschaft ist.

In der Küche dominieren der große dunkle Holztisch, viele traditionelle Keramikschüsseln und -krüge und natürlich das riesige steinerne Spülbecken unter dem Fenster mit den grünen Holzläden. Der Fliesenboden ist alt und birgt, wie das ganze Haus, einen ganz besonderen Charme.

Das andere Mallorca – in der Tat. Der Teil der Insel, wo Zitronen- und Orangenbäume wachsen, ganz zu schweigen von den großen Olivenhainen, und wo man sich für einen kleinen Snack nicht an den Kühlschrank begibt, sondern frische Feigen direkt vom Baum nascht – unglaublich saftig und süß, eine besser als die andere. Ein Landstrich, wo kleine und auch größere Orte in einem Farbton gestrichen zu sein scheinen, einem hellen Gelbbraun. Wo die Zeit jetzt, Ende September, ein bisschen langsamer vergeht als im Hochsommer.

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In Sineu – dem geografischen Mittelpunkt der Baleareninsel – drücken sich die Touristen auf dem großen Wochenmarkt am Mittwochvormittag wie die Heringe in der Büchse zwischen den Ständen hindurch. Kleidung, Leder, Keramik, lange Schnüre mit bunten Peperoni, regionale Lebensmittel vom berühmten Salz des Es Trenc über die würzige Sopresada, eine mit Paprika gewürzte Wurst, hervorragende Weine und leckeren menorquinischen Käse, aber auch Billigschund made in China: alles wird angeboten, was Auge und Herz des Urlaubers begehren. Nur zwei Tage später, an einem Freitagnachmittag, scheint die Innenstadt am Fuße der schönen Kirche verwaist. Ein paar Einheimische trinken Kaffee in der Bar am Marktplatz, ein Touristenpärchen stattet dem Gotteshaus einen Besuch ab. Nicht mal ein Hund kreuzt den Weg, wo zwei Tage zuvor noch tausende Menschen in dichtem Gedränge verweilten.

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Nahe Montuiri liegt die größte Ausgrabungsstätte der talaiotischen Kultur, steinerne Zeugen mächtiger Bauten aus längst vergangener Zeit, Jahrhunderte vor Christus. Wer ein bisschen Muse mitbringt, kann hier, im Herzen der Insel, etwas über die Menschen erfahren, die sich an dieser Stelle vor mehr als 2500 Jahren ansiedelten, die das römische Reich kommen und gehen sahen – und irgendwann wieder vom Bildschirm der Geschichte verschwanden.

Nicht ganz so weit in die Vergangenheit reist man auf Es Calderers, einem Landgut mallorquinischen Adels, das außerhalb des kleinen Fleckens San Joan auf einer Anhöhe liegt und gegen das nötige Kleingeld zum Besuch einlädt. Dieser lohnt sich. Das Anwesen führt den Besucher in eine Zeit zurück, in welcher der Herr von Adel mit der Feder Briefe an seinem hölzernen Sekretär schrieb und Gleichgesinnte zu tiefsinnigen Gesprächen in die Sitzecke seines Arbeitszimmers lud, während die Dame des Hauses die Tage mit Klavierspielen oder Näharbeit verbrachte. Liebevoll gedeckte Tische mit Kristallkelchen, Musikzimmer und Schlafgemache laden zum Entdecken ein. Im Innenhof des Haupthauses lässt es sich wunderbar verweilen zwischen üppigem Grün am Goldfischbecken.

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Auch der Garten des Anwesens ist einen Besuch wert. Große Wasserbecken mit Wasserspeiern, lauschige Sitzplätze unter schattigen Bäumen mit Ausblick auf die umgebende Landschaft, Stallungen mit Tieren vom Huhn über schwarze Schweine, Ziegen und Schafe bis zum Rind sowie Pferdekoppeln zeugen davon, worauf der Adel in früheren Zeiten seinen Wohlstand baute. Wer mag, kann im Weinkeller ein Schlückchen „Vin dolc“ probieren – und Kostproben der hauseigenen und anderer mallorquinischer Produkte als Souvenir mitnehmen.

Son Costa liegt zentral auf der Insel – und dennoch sind es bis zur Küste nicht einmal 40 Autominuten. Zum Beispiel ganz in den Süden: Vom Leuchtturm beim Cap Ses Salines ist es ein rund 20 Minuten dauernder Spaziergang auf dem Küstenpfad bis zum Platja Escaragol, dem Schneckenstrand. Keine Imbissbude weit und breit, kein Hotel verbaut den Blick ins anschließende Naturschutzgebiet. Es gibt nur Dünen, Sand – und Meer, das in verschiedenen Farbtönen schillert. Nur wenige Kilometer weiter erstreckt sich der berühmte Strand „Es Trenc“ an der Südküste Richtung Palma. Dort liegen die Besucher im Sommer Handtuch an Handtuch, während sich die Sonnenhungrigen am Schneckenstrand ihr Plätzchen aussuchen können.

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Ebenfalls unbewirtschaftet und nicht gerade leicht zu finden sind die beiden Buchten Cala s’Almunia und Calos des Moro im Osten Mallorcas. Die winzigen Strände sind naturbelassen und verbunden mit einem Abstieg über 100 Treppenstufen. An deren Fuß steht der Entdecker an der zauberhaften Cala s’Almunia: rechter Hand liegt ein kleiner Strand, linker Hand eine kleine Ansammlung pittoresker Fischerhäuschen, die die Bucht umsäumen. Hier ist das Wasser glasklar und hell, denn auf dem Sandboden reflektiert das Wasser die Sonne. Wer baden möchte, legt seine Kleidung und das Handtuch einfach auf den Bootsslips ab – sollte ein Gefährt zu Wasser gelassen werden, muss man eben seinen Platz räumen. Der Einstieg ins Meer ist verbunden mit einem äußerst rutschigen Zugang über die glitschigen Holz- und Steinbohlen.

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Oberhalb der Häuschen führt ein Pfad durch die Natur auf die andere Seite des Buckels. Dort liegt sie, die vermutlich meistfotografierte Bucht Mallorcas. Die Calos des Moro mit ihrem Miniaturstrand ziert zahlreiche Buchcover und Magazine über die Baleareninsel. Weißer Sand, pittoreske Felsen, eine rote Sandsteinwand und karibisches Wasser: so sehen Urlauberträume aus. Leider sind es nicht gerade wenige Besucher, die den steilen Abstieg in die Bucht wagen. Mit Kind und Kegel, Sonnenschirm und Rucksackvesper erobern sie schon am frühen Morgen den Strand, und spätestens kurz nach 10 Uhr ist auch Ende September alles voll: Handtuch liegt an Handtuch, junge barbusige Frauen filmen sich munter mit Mobiltelefon und Selfiestick im klaren Wasser, besorgte Väter spannen in der Brandung Sonnenschirme auf, um ihren Nachwuchs beim Planschen und Sandburgen bauen vor dem Himmelsgestirn zu schützen. Zeit, zu gehen. Das Gelände oberhalb der Bucht, das sich in Privatbesitz befindet, lädt zu einer kleinen Exkursion ein, die auch herrliche Aussichten über das Meer bietet.

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Noch immer kann man an der Ostküste Mallorcas hübsche Buchten finden, die nicht komplett überlaufen und von Hotelburgen zugebaut sind. Die Cala Murada beispielsweise hat sich ihren Charme erhalten. Auch sie wird gesäumt von Apartmentanlagen, doch diese schmiegen sich gefällig in die Landschaft, ohne groß zu stören. In der Strandbar gibt es Tapas, wer mag, kann sich am Wasser wahlweise Liegestühle und Strandschirm leihen oder es sich auf seinem eigenen Handtuch bequem machen.

Einen Abstecher wert ist auch die Cala Figuera. Hier gibt es zwar keinen Strand, doch Mutige können sich von hohen Felsen ins Meer stürzen. Wie ein kleiner Fjord frisst sich das Mittelmeer hier ins Festland; von den Terrassen der am Hang gelegenen Restaurants kann man hübsche Segelboote beim Ein- und Auslaufen beobachten.

Am Ende des Tages wartet Son Costa auf seine Bewohner. Hier in Montuiri, wo die Uhren ein bisschen langsamer ticken. „Ein anderes Mallorca“, sagt Maria Magdalena. Sie hat recht. Es ist das Mallorca, das wir gesucht und gefunden haben.

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